Peer Steinbrück (SPD) sieht Europa als Zukunft der deutschen Wirtschaft – „Deutschland, das Wirtschaftswunderland“

Optimistisch zeigten sich rund 5.000 Unternehmer und Verantwortliche großer Wirtschaftsbetriebe aus der Region beim Jahresempfang der Wirtschaft 2012 in der Mainzer Rheingoldhalle. Die rheinland-pfälzischen Wirtschaftskammern und Kammern der Freien Berufe haben allen Grund zur Freude, denn die deutsche Wirtschaft wächst nach dem Krisenjahr 2009 kräftig. Auch wenn die Prognosen für 2012 nicht ganz so rosig seien, wie ursprünglich gedacht, wandte der Präsident der Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen, Dr. Harald Augter ein. „Nur 0,3 Prozent statt drei Prozent Wachstum wie es Ende 2011 noch hieß, bedingt durch die Ungewissheit um die Stabilität des Euro und den Sparkurs der Regierung.“

 

Augter und Prof. Dr. Marcus Scholz, Landespräsident der Wirtschaftsprüferkammer in Rheinland-Pfalz, beklagten die große Intransparenz der deutschen Steuerabgabenpolitik. Für die 50.000 Selbstständigen in Rheinland-Pfalz sei der hohe bürokratische Aufwand ein großes Ärgernis, besonders da sie als Leistungsträger durch ihren Steuerbeitrag zur öffentlichen Stabilität beitragen würden. Sagenhafte 99,8 Prozent machten mittelständische Betriebe in Rheinland-Pfalz aus, diese gelte es zu bewahren.

 

MdB und Bundesminister a. D. Peer Steinbrück (SPD) zeigte sich von seinen Vorrednern kaum beeindruckt, habe sich doch gerade in punkto Steuerpolitik in den vergangenen Jahren viel bewegt. „Wir hatten früher 53 Prozent Spitzensteuersatz, nach der Steuerreform nur noch 42 Prozent – schon vergessen?“ provozierte Steinbrück. Zur Undurchsichtigkeit und Komplexität der deutschen Steuergesetze hätten vor allem die vielen unterschiedlichen Teilinteressen beigetragen. Am Ende wolle keine Partei Abstriche bei sich selbst machen, sondern nur bei anderen, monierte der ehemalige Finanzminister.

 

Unterm Strich habe die deutsche Wirtschaft nicht viel zu beklagen im Vergleich zu den europäischen Nachbarn, machte er den Unternehmern und Politikern im Saal klar. Nach dem Schreckensjahr 2009 als es mit der Wirtschaft um fünf Prozent bergab ging – ein historischer Tiefpunkt – habe sich Deutschland erholt und sei nun, wie Alice, im Wunderland. Das sei vor allem in den hervorragenden industriellen Strukturen Deutschlands begründet, das im Gegensatz zur einstigen Industrienation England seine Produktionszweige pfleglich behandelt habe und nütze. „Fast 50 Prozent reine Produktionskapazität müssen von Politik und Wirtschaft gleichermaßen erhalten werden, das ist unsere Zukunft.“

 

90 Prozent der Wirtschaftsleistung seien den „tüchtigen und Export-orientierten“ kleinen und mittelständischen Unternehmen zu verdanken. Auch die „erstaunlich moderaten“ Tarifabschlüsse haben Deutschland wettbewerbsfähig gemacht. „Die Lohnstückzahlen sind hier gesunken, in anderen Ländern gestiegen, Lohn- und Gehaltsentwicklung sind unterhalb vom Produktionsniveau geblieben. Die schlechte Nachricht ist: Unsere realen Einkünfte sind geringer als vor einigen Jahren“, formulierte Steinbrück geradlinig. Diese „Verteilungsunwucht“ gelte es wieder in Balance zu bringen, um die Nachfrageschwäche im Inland zu stärken. Die Einführung einer Mindestlohngrenze sei nur ein Ansatz.

 

Das deutsche Wirtschaftswunder wäre ohne das Drei-Säulen-Kreditwesen und die öffentlich-rechtlichen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die die Kapitalversorgung gerade des Mittelstandes in einem hohen Maße sichergestellt hätten, nicht gelungen. Steinbrück sprach sich für den Erhalt des deutschen Bankensystems aus. Wo seiner Meinung nach dringender Investitionsbedarf herrsche sei allerdings das deutsche Bildungswesen. „Laut Analysen liegt Deutschland ein Prozent unter dem Durchschnitt der Bildungsinvestitionen der OECD-Staaten, im Vergleich zu skandinavischen Ländern sogar um zwei Prozent. Das sind 50 Milliarden Euro,“ betonte Steinbrück: „Unsere Gesellschaft ändert sich, wir werden einen Facharbeitermangel haben, rund sechs Millionen Personen Rückgang.“ Man könne dies zum Teil mit einer Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen kompensieren, doch dazu müsse für eine gleiche Entlohnung und genügend Betreuungsplätze gesorgt sein – Rheinland-Pfalz ginge hier mit gutem Beispiel voran. Auch die Energiepolitik bedarf einer soliden technischen und politischen Ausarbeitung.

 

Wer den Euro als Währung verfluche, dem sei gesagt, bemerkte der Bundestagsabgeordnete, dass ein Aufkündigen der gemeinsamen Währung Europa um 20 Jahre zurückwerfe. Seit der Einführung des Euro sei die deutsche Wirtschaft stetig um etwa 1,5 Prozent gewachsen. Wechselkursrisiken seien entfallen und Deutschland exportiere immerhin 60 Prozent ins europäische Ausland. Das politische Projekt Europa sei wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit weltweit, denn die würde mittlerweile vom pazifischen Raum diktiert. „Die wirtschaftliche Championsleague ist für Deutschland nur mit Europa möglich,“ betonte Steinbrück. Deutschland habe ein hohes ökonomisches Interesse an Europa und auch eine historische Verantwortung, daher seien die 200 Milliarden für den Euro-Rettungsschirm nicht zu viel verlangt. „Wir haben in den vergangenen 20 Jahren insgesamt 2.000 Milliarden für die deutsche Einheit investiert. Sollte uns Europa also nicht einmal ein Zehntel davon wert sein?“

 

Vorbild für die Banken sieht er dagegen im Mittelstand: „Hier fallen Haftung und Risiko immer zusammen. Die finanziellen Folgekosten der riskanten Bankgeschäfte müssen ebenso von den Banken getragen werden und nicht vom Steuerzahler.“ Steinbrück regte an, Programme zum Anschluss benachteiligter europäischer Länder durch zusätzlich eingenommene Steuergelder aus solchen Finanztransaktionen zu finanzieren.

 

Der Alzeyer Landtagsabgeordnete Heiko Sippel (SPD) zeigte sich beeindruckt von Steinbrücks Rede. „Er hat einen hohen wirtschaftspolitischen Sachverstand und Weitblick bewiesen, sich nicht verstellt oder angebiedert, sondern Klartext geredet. Der kräftige Beifall des Publikums hat gezeigt, dass er überzeugen kann.“

 

mth

Veröffentlicht am 07.02.2012.