Bei der Plenarsitzung des Landtags aus Anlass des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2025 stand die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 80 Jahren im Mittelpunkt. Es wurde daran erinnert, dass der Hass auf jüdische Menschen und Minderheiten nach 1945 nicht vorbei war und in unserer Gegenwart in erschreckender Weise wieder zum Vorschein kommt. Ebenso ging es um die Frage, welche Rolle die Erinnerung an die Diktatur für unsere Demokratie heute spielen kann. Der Landtag kam zur Sitzung in der Neuen Synagoge in der Mainzer Neustadt zusammen.
Hendrik Hering erinnerte an den jüdisch-ukrainischen Major Anatoli Schapiro, der die Lagertore von Auschwitz öffnete und sagte: „Wir brauchten fast drei Stunden, bis wir die verminten Tore entschärft hatten. Was ich dann sah, werde ich nie wieder vergessen. Skelette von Menschen kamen mir entgegen. Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt.“ Wie kein anderer Ort stünden die Lager von Auschwitz für den Abgrund der Menschheit. „Auschwitz, das war eine monströse Mordmaschine. Jenseits aller Vorstellungen von Moral und Menschlichkeit. Eine Hölle, der nur wenige entrinnen konnten“, so der Landtagspräsident.
Schweigen, Unterlassen, Vertuschen
Der Holocaust sei nicht unvermeidbar gewesen. Hendrik Hering betonte, dass der Holocaust nur geschehen konnte, weil viele Deutsche daran beteiligt waren durch aktive Mithilfe ebenso wie durch Unterlassung. „Das Schweigen der Mehrheit – es war ohrenbetäubend“, so Hering. Mit diesem Schweigen seien auch immer schneller die gesellschaftlichen Normen verschoben worden. Nach dem Krieg seien viele der Täter straflos davongekommen. Als Beispiel nannte Hendrik Hering den Ingenieur Karl Bischoff aus Neuhemsbach in der Pfalz: Er war Bauleiter der Krematorien von Auschwitz. „Nach dem Krieg ließ er sich in Bremen nieder, als wäre nichts geschehen“, sagte der Landtagspräsident. Geholfen habe eine Justiz, die aus einem Volk von Tätern ein Volk von mehr oder weniger „ahnungslosen“ Gehilfen geschaffen habe. Je mehr die Justiz aber den Fokus auf wenige Hauptverantwortliche legte, desto besser habe sich die Schuld der Vielen verwischen lassen. Dabei habe es nicht schnell genug gehen können: So sei das „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“ gleich eines der ersten Gesetze überhaupt gewesen, die der junge Deutsche Bundestag verabschiedete. Hier zeige sich früh das Muster deutscher Vergangenheitspolitik. Eine ernsthafte und vertiefte Auseinandersetzung mit dem allumspannenden Netz aus Mittätern und Mitläufern sei unterbunden worden.
Die Täter seien dabei vor allem „ganz normale“ Menschen gewesen: die Angestellten oder Beamten in den Behörden, die Polizisten, die Wehrmachtssoldaten, die Ärzte oder Pflegerinnen, die Richter und Anwälte, die Lokführer oder Busfahrer. Sie alle hätten an ihren je unterschiedlichen Dienststellen den Massenmord erst möglich gemacht. Eine Wende habe sich erst 1963 eingestellt mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt und den späteren Studentenunruhen, ebenso mit der berühmten Rede des Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985.
Zunehmender Antisemitismus
Ungeachtet dessen sei der Antisemitismus, den wir heute erlebten, auch nicht neu, sondern nie weg gewesen. Er sei nach wie vor Teil unserer Gesellschaft und suche sich seine Wege. Die Verleugnung eigener Schuld und damit die fortdauernde Demütigung der Opfer dauere an und habe sich besonders deutlich nach dem 7. Oktober 2023 – nach dem bestialischen Angriff der Hamas auf wehrlose Israelis – gezeigt. „Es ist unerträglich, dass Bürgerinnen und Bürger ihre jüdische Religion verstecken müssen“, so Hendrik Hering. Als Landtag sei man heute ganz bewusst in die Synagoge gekommen, um zum Ausdruck zu bringen: „Wir stehen zu Ihnen. Und wir werden alles, wirklich alles, was in unserer Macht steht, tun, damit Sie sich sicher fühlen können!“. Der Antisemitismus sei wieder auf dem Vormarsch und mit ihm Gewalt, Rassismus, Demokratieverachtung. Er offenbare sich in einer Sprache, die bewusst irritiere, die brutal sei, die schamlos sei und die lüge. Als vor einem Jahr das Wort „Remigration“ gefallen sei, gingen Hunderttausende auf die Straße. Heute werde der Begriff selbstbewusst von einer Partei im Wahlkampf genutzt.
„Werkzeuge der Demokratie anwenden“
Hendrik Hering dankte den vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in den bisher 27 Jahren der Gedenksitzungen des Landtags bewegend und eindringlich über ihr Leben vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus berichtet haben. Diese Zeitzeugen hätten einen großen Teil ihres Lebens der Erinnerung gewidmet und sich für ein respektvolles, friedliches Miteinander eingesetzt. Jetzt seien nur noch wenige von ihnen da. „Deshalb werden und wollen wir die Erinnerung stärker als bisher in unsere eigenen Hände nehmen. Wir müssen erwachsen werden. Sie, die Zeitzeugen, haben lange genug diese Last für uns getragen“, so Hendrik Hering. Er mahnte abschließend: „Wer zulässt, dass anderen die Freiheit geraubt wird, der verliert am Ende die eigene Freiheit. Wer zulässt, dass anderen die Würde genommen wird, der verliert am Ende die eigene Würde.“ So habe es begonnen. Und so könne es wieder beginnen. Die Lehren aus dem Nationalsozialismus hätten uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes in die Verfassung geschrieben. Sie hätten auch die Werkzeuge geschaffen, um Demokratie und Rechtsstaat für alle Zeiten gegen Angriffe zu sichern. „Aber wir müssen auch mutig sein, die Werkzeuge, die uns an die Hand gegeben wurden, zu nutzen“, sagte Hendrik Hering. Dazu brauche es entschlossene demokratische Parteien und eine selbstbewusste und mutige Zivilgesellschaft.
Schweitzer: Es darf in Deutschland nicht leise werden
Ministerpräsident Alexander Schweitzer betonte in seiner Ansprache: „Es darf in Deutschland nicht leise werden. Es kommt jetzt darauf an, klare Haltung und klare Kante zu zeigen. Wer heute ‚Nie wieder‘ sagt, der darf nicht schweigen, nicht wegschauen. Es braucht jetzt das hörbare Widerwort und das gemeinsame Handeln der Demokratinnen und Demokraten.“ Antisemitismus verstecke sich nicht, so der Ministerpräsident, und sei bis weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden. Antisemitische Straftaten seien insbesondere seit dem schrecklichen Terrorangriff der Hamas auf Israel drastisch angestiegen und antisemitische Äußerungen würden wieder unverhohlen sowohl an den Kneipentresen als auch in Social-Media-Postings fallen. Der Ministerpräsident unterstrich: „Antisemitismus betrifft uns alle. Wenn Jüdinnen und Juden in Angst leben, bekommt unsere Demokratie Risse, denn jeder einzelne Antisemitismus-Vorfall, jede antisemitische Äußerung greift unsere demokratischen Grundwerte an, greift Freiheit und Würde, greift den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen an.“ Der Ministerpräsident betonte weiter mit Nachdruck, dass die Landesregierung an der Seite der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz stehe und alle notwendigen Maßnahmen ergreife, damit die Sicherheit und der Schutz von Jüdinnen und Juden sowie der jüdischen Einrichtung gewährleistet seien. „Wer Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit entgegentritt, stärkt die Demokratie. Hier geht es ums große Ganze, hier geht es um die Grundfeste unseres demokratischen Zusammenlebens“, so der Ministerpräsident. Er dankte allen, die nicht müde werden, für Menschenrechte und Demokratie zu streiten, die die Erinnerung wachhalten und er dankte den Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz: „Dass wir heute, am 27. Januar, in dieser wundervollen Synagoge gemeinsam gedenken, hat eine eigene Botschaft: Wir als Gesellschaft bekommen ein kostbares Geschenk: Vertrauen. Und das in einer für die Jüdische Gemeinschaft schwierigen Zeit, vielleicht der schwierigsten nach 1945. Mit diesem kostbaren Geschenk geht Verpflichtung einher, und zwar diesem Vertrauen immer wieder auf Neue gerecht zu werden– heute und in Zukunft. Allen in Rheinland-Pfalz möchte ich zurufen: Lassen Sie uns als Gesellschaft diesem Vertrauen gerecht werden. Es braucht jetzt jede und jeden, um gegen diejenigen, die unsere freiheitliche Gesellschaft zerstören wollen, etwas zu tun.“
Zeitzeuge berichtet
Bei einem moderierten Generationengespräch tauschte sich der 104-jährige Holocaust-Überlebende Nicolaus Blättermann, Ehrenvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Bad Kreuznach, im Gespräch mit Julia Panasyuk, junges Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Mainz-Rheinhessen, aus. Im Zentrum stand unter anderem die Frage, wie es sich heute anfühlt, jüdisch zu sein. Blättermann hatte die jüdische Gemeinde in Bad Kreuznach nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut.
Steinke: Mut zum Widerstand
Die Gedenkrede hielt der Journalist, Publizist und Autor Ronen Steinke unter dem Titel „Mut zum Widerstand“. Er schlug darin den Bogen von damals zu heute und ging auf den erstarkenden Rechtsextremismus ein.
Ronen Steinke sagte: „Mit Blick auf die heute oft zu hörende Entschuldigung für einzelne Verbrechen – zum Beispiel dass man bloß Befehle befolgt und bei Verweigerung selbst hätte getötet werden können – kommt die geschichtliche Forschung mittlerweile zu einem beunruhigenden Befund. Bis heute, so lernen wir, gibt es keinen Beweis dafür, dass je ein Soldat oder Polizist wegen der Verweigerung, an Erschießungen oder anderen NS-Verbrechen mitzuwirken, getötet worden wäre. Einzig Entlassungen sind bekannt. Das heißt: Nicht mitzumachen beim Massenmord an Zivilisten, Frauen, Kindern…, das hätte noch nicht einmal viel Mut erfordert.“ Bei entsetzlich vielen Deutschen habe es jedoch nicht einmal für diesen minimalen Mut gereicht. Auch heute noch mache man es sich in der Gesellschaft einfach auf dem Rücken von Minderheiten wie den Juden, Roma und Sinti sowie geflüchteten Menschen, die als Sündenböcke herhalten müssten. Es sei ein „lockendes Geflüster“, eine gesellschaftliche Randgruppe vereinfachend als Sündenbock herzunehmen. Auch im rheinland-pfälzischen Landtag bauten einige genau hierauf: wenn die Menschen sich schwach fühlten, dann sollten sie daran denken, dass es immer noch Schwächere gebe, die man treten könne. Auch wenn sich real dadurch nichts zum Besseren wende. Er fragte: „Was für eine Kraft müssen die Menschen in der jüdischen Gemeinde gebraucht haben, um trotzdem weiterzumachen. Und – um nicht bitter zu werden. Und auch heute noch: Wie viel Courage brauchen kleine jüdische Mädchen und Jungen, die sich in ihrer Schule, wo sie vielleicht die einzigen sind, offen dazu bekennen, jüdisch zu sein. Die sich vielleicht entscheiden, eine Kette mit Davidstern zu tragen.“
Er schloss mit einer offenen Frage: „Wenn die gesamte Hochkultur dieses Landes, sein Goethe, sein Beethoven, sein Rilke, seine vielen Menschen, die sonntags in die Kirche gingen – wenn all das in den 1930er Jahren nicht davor geschützt hat, dass Deutsche dennoch kurzerhand Millionen ihrer Nachbarn zur Ermordung freizugeben bereit waren, was schützt uns dann davor? Auch in der Zukunft?“. Vielleicht sei Mut ein Teil der Antwort, so Ronen Steinke.
Während der Veranstaltung kam auch ein Schulprojekt des Staatstheaters Mainz unter der Regie von Simone Glatt zur Aufführung unter dem Titel „Gestern, Heute, Morgen“. Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von der Mezzosopranistin Shai Terry und dem Gitarristen Russell Poyner
Hintergrund: 27. Januar im Landtag
Seit 27 Jahren erinnert der rheinland-pfälzische Landtag am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Die erste Sondersitzung des Landtags fand 1998 in der damals neu eingerichteten „Gedenkstätte ehemaliges KZ Osthofen“ statt. Damit ist der Landtag Rheinland-Pfalz eines der ersten Landesparlamente in Deutschland, das die Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1996 aufgriffen hatte und den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz als Gedenktag begeht.
Veröffentlicht am 28.01.2025.